Erster Weltkrieg 1914–1918: Hunger und Mangel in der Heimat

Die dramatische Ernährungslage der deutschen Zivilbevölkerung, aber auch der kämpfenden Soldaten in den Jahren 1914 bis 1918 und darüber hinaus ist in den Nachkriegsjahren fast ausschließlich als Folge der „Hungerblockade“ der Mittelmächte durch die Kriegsgegner der Entente beschrieben worden. Tatsächlich wurden das Kaiserreich und die Donaumonarchie auf vielen Gebieten des Rohstoff- und Nahrungsmittelbedarfs mit der erfolgreichen Durchsetzung weitgehender Embargomaßnahmen ihrer Kriegsgegner geschwächt. Die so entstandene Hungerlage in der deutschen Bevölkerung war allerdings auch das Ergebnis dramatischer Fehlentscheidungen einer zentralistischen bis diktatorischen Ernährungspolitik; deren Regelungen in der Preis- und Verteilungspolitik blieben bis Kriegsende weitgehend unzureichend.

Unter der ärmeren Bevölkerung der Großstädte herrschte ab Frühsommer 1916 definitiv Hunger. Einen neuen Höhepunkt erreichte die Ernährungskrise im Winter 1916/17: Die Kartoffelernte des Jahres 1916 lag aufgrund schlechter Witterung und einer Kartoffelfäulnis nur bei etwa 50 Prozent des Friedensertrags. Was genießbar war, ging entweder an die Front oder blieb bei den Bauern. An die Bevölkerung wurden als Ersatz Kohl- und Steckrüben ausgegeben, die kaum Nährwert haben und deren Verteilung auch nur schlecht klappte. Der „Hungerwinter“ 1916/17 kam für die Bevölkerung unerwartet und zehrte an ihrer physischen Widerstandskraft. Da es kriegsbedingt an menschlicher und tierischer Arbeitskraft für die Feldarbeit mangelte und Düngemittel nahezu fehlten, fiel auch die Getreideernte des Jahres 1917 extrem schlecht aus. So folgte auf den „Hungerwinter“ ein „Hungersommer“. Die Grundversorgung der Stadtbevölkerung lag nur noch bei 1 000 Kalorien pro Tag – zum Sterben zu viel und zum Leben und Arbeiten zu wenig. Schleichhandel und Wuchergeschäfte blühten.

 

Große Not in den Anstalten

Besonders hart waren die Insassen geschlossener Anstalten von der permanenten Hungersnot betroffen. Die Patienten der Heil- und Pflegeanstalten der Länder wiesen im Winter 1916/17 Übersterblichkeiten von bis zu 20 Prozent auf. Vom Leiter der Oberfränkischen Heil- und Pflegeanstalt Bayreuth stammt ein vertraulicher Bericht an das Königlich Bayerische Staatsministerium des Inneren vom September 1917. Er lässt erahnen, welche Zustände herrschten: „Das ständige Geschrei der Kranken bzw. ihre unaufhörlichen Klagen über Hunger, ihre beim Gartenbesuch zutage tretende Gier nach unreifem Obst, ja selbst nach Gras, Blumen, Laub, Eicheln, Kastanien etc. angesichts der Unmöglichkeit der Abhilfe“ seien ein „die Nerven stark ergreifendes Moment“. In anderen Anstalten traten ähnlich dramatische Angst- und Agitationszustände der Patienten angesichts des drohenden Hungertodes auf. So berichtete der Direktor der Kgl. Heil- und Pflegeanstalt Regensburg im September 1917, dass die Kranken „in ihrem Hungergefühl Kartoffeln mit der Schale, Abfälle und Ersatzstoffe, wo sie solche erhaschen konnten, zum Beispiel Gras, Blumenzwiebeln, verzehrten, in unruhigen Abteilungen um die Nahrungsmittel mit Mitkranken förmlich rauften“. In einem Brief des Gesundheitsamtes Lübeck vom August 1918 hieß es, dass die „betrübende Tatsache“ der deutlichen Übersterblichkeit in Irrenhäusern dadurch „etwas gemildert“ werde, „daß es [doch] vorzugsweise die geistig tiefstehenden, dem Blödsinn nahe befindlichen Kranken“ gewesen seien, die dem Hunger erlegen waren. Solche Äußerungen lassen vermuten, dass es sich beim Hungersterben in den Anstalten wohl um schulterzuckend hingenommene Vorgänge handelte.

Deutlich mehr Sterbefälle

Zweifellos gab es während des Krieges eine Hungerkatastrophe in allen geschlossenen Psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten des Reichs. Bereits der Steckrübenwinter 1916/17 ließ dies sehr deutlich werden. So schnellten etwa die Sterbezahlen in den Badischen Heil- und Pflegeanstalten schon Ende 1916 deutlich in die Höhe. In Wiesloch stieg die Anzahl der Anstaltstoten von 123 im Jahre 1915 auf 177; in Emmendingen erhöhte sich die Zahl von 137 Gestorbenen 1915 auf 167 im Folgejahr. Dabei ging die Übersterblichkeit mit anderen Phänomenen einher: Das Sterben in den Anstalten begann früher, weil keine krankheitsangemessenen Diäten verordnet werden konnten, hinzu kam, dass aufgrund der allgemeinen Schwächung der Kranken die Tuberkuloseanfälligkeit schnell zunahm. Zudem kam es zu Hungerödemen.

Besonders dramatisch war das Hungerelend unter den Kindern. Die gesundheitliche Lage der Schulkinder während der Kriegszeit gehört zu der am besten bekannten in allen Altersgruppen, weil regelmäßige Schulgesundheitsuntersuchungen bereits seit der Vorkriegszeit praktiziert wurden. Auch nach August 1914 hielt man daran fest. Erfahrene Schulhygieniker und Kinderärzte hatten die möglichen Gesundheitsschäden der Kriegs-Schulkinder unter Mangelernährung bereits vorhergesehen, als sich im Februar 1915 erste leichte Lebensmittelverknappungen bemerkbar machten. „In wirklich eingeweihten Kreisen“, so der Berliner Pädiater Adolf Baginsky, habe man die „Schäden der mangelhaften Ernährung schon offensichtlich werden“ sehen, als sich bereits in den Kindergärten „der Hunger in langsam geübter Form“ eingestellt habe. Für den Mannheimer Schularzt und Kriegsteilnehmer Paul Stephani war auch die steigende Inanspruchnahme der Schulspeisungen ein sicherer Indikator für schleichenden Nahrungsmangel in den Haushalten der Kinder. In Berlin nahm deren Zahl von August bis Ende September 1914 von 21 497 auf 26 700 zu, also um mehr als 5 000, um Ende 1916 die Zahl von 35 000 Schulspeisungen zu erreichen.

Die Kompensationsbemühungen der Schulträger, die Kinder in den Städten durch Frühstücks-Schulspeisungen und Schul-Kriegsküchen aufzupäppeln, wurden in den ersten Kriegsjahren noch durch eine Steigerung der Land- und sogar Auslandsverschickungen in die Niederlande, nach Dänemark und in die Schweiz bereichert. Ein Höhepunkt war aber 1917 mit 307 390 Verschickungen gesundheitlich bereits geschädigter Kinder erreicht. Danach sanken die Zahlen, denn nahezu alle Transportkapazitäten der Eisenbahn wurden nun für Truppenverschiebungen, Munitionslieferungen und den Verwundetenabschub benötigt. Die Kinder hungerten nun zu Hause. Schuluntersuchungen wiesen bereits 1916/17 auf Gewichtsabnahmen von etwa zwei Kilogramm bei Vierzehnjährigen hin und daneben auf ein im Durchschnitt um etwa zwei Zentimeter vermindertes Längenwachstum bei Volks- und Mittelschülern. Im Folgejahr belief sich der Wachstumsrückstand bereits auf drei Zentimeter, und 1918/19 waren bei Schulanfängern dreimal soviel „ausgesprochen kleine Kinder als zu Friedenszeiten“ registriert worden.

Der „allmähliche Verderber“

Obwohl die ersten Hungerschäden insbesondere bei Großstadtkindern bereits zum Jahreswechsel 1915/16 jedem sachkundigen Beobachter klar vor Augen standen, verhinderten Militär- und Zivilbehörden jede öffentliche Verlautbarung oder Diskussion darüber. So scheiterte unter anderem auch der Versuch, den Berliner Stadtkindern sehr viel früher und in sehr viel größerem Umfang Landerholungsaufenthalte zu ermöglichen. Die Benachteiligung der Kinder in den Hungerjahren des Krieges lag auch darin begründet, so ein Berliner Schulmediziner, dass „Kinder aber erfahrungsgemäß den Hunger [seelisch] nicht lange“ aushielten und ihre Körper zunächst mit „Blutarmut“, dann aber schnell mit Tuberkulose darauf reagierten. Drastisch habe sich dieser Zusammenhang in Berlin gezeigt, wobei der Tod dort nicht als der „plötzliche Würger“, sondern sehr viel häufiger als der „allmähliche Verderber“ in Erscheinung getreten sei, denn der Hunger münde nahezu immer in „schleichende Krankheiten“ und „Siechtum“. An den Schulkindern habe man mit der Verschärfung der Ernährungskrise auch deutliche Leistungsabfälle und einen klaren Zusammenhang zwischen „Unterernährung und Nachlassen der geistigen Kräfte“ bemerkt. Mit diesem Verfall einhergegangen seien „geistige Minderwertigkeit und sittliche Verwahrlosung“, wie man sie insbesondere an der hungerbedingten Zunahme der Jugendkriminalität erkennen könne.

Große Belastung der Frauen

Auch der körperliche Preis, den Frauen, insbesondere erwerbstätige Frauen, Arbeiterfrauen oder Kriegerwitwen, durch ihre Doppelbelastung als Alleinernährerin in Familie und Beruf und im gesellschaftlichen Engagement während der Kriegshungerjahre zu zahlen hatten, war hoch. Gesundheitsschädigend waren insbesondere die ungewohnt anstrengenden und häufig auch gefährlichen Tätigkeiten in der Industrie, namentlich in der Rüstungsindustrie. Die Probleme nahmen ihren Ausgang bereits bei der nicht vorhandenen Arbeits- und Arbeitsschutzbekleidung. Hinzu kam, dass typisch männliche Arbeiten Frauen angesichts der Hungerlage körperlich oft überforderten. Extremen Umweltbelastungen und Intoxikationen waren die Frauen vor allem in Munitionsfabriken ausgesetzt. Schwere Hautschädigungen, aber auch Sehstörungen bis zu permanenter Erblindung wurden häufig bei Arbeiterinnen festgestellt, die in der Granatenproduktion arbeiteten und dabei der prekären Stoffgruppe der Nitrokörper ausgesetzt waren. Eine Hauptrolle spielten dabei Trinitrotoluol, Trinitroanisol, Dinitrobenzol, Pikrinsäure sowie eine Reihe von Naphthalin- und Phenolverbindungen. Die Krankheitsziffern in solchen Betrieben mit ihrer überwiegend weiblichen Belegschaft waren exorbitant.

Eine Rotkreuzschwester füttert einen Verwundeten (um 1914/15). Entnommen aus: Unter dem Roten Kreuz im Weltkriege, Berlin 1934

Betrachtet man die Sterblichkeitszunahme der weiblichen Bevölkerung allein, so zeigen sich beeindruckende Steigerungen in allen Altersgruppen insbesondere nach 1916. Bei Frauen im mittleren erwerbsfähigen Alter zwischen 25 und 45 Jahren stieg die Sterblichkeit von 1913 bis 1916 auf 7,5 Prozent und bis 1917 auf 33,7 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Sterblichkeit der Alterskohorte der 75- bis 90-jährigen Frauen um 115 Prozent (1916) und um 162 Prozent bis 1917. Der „Kohlrübenwinter“ 1916/17, in dem die Versorgungslage auf ein Kalorienminimum gesunken war, bedeutete für alle Altersstufen bis auf die Gruppe der Säuglinge ein sprunghaftes Ansteigen der Übersterblichkeit, verglichen mit dem letzten Friedensjahr 1913.

Eine der am häufigsten diagnostizierten geschlechtsspezifischen Reaktionsweisen des weiblichen Körpers in der Heimat war während der Kriegsjahre das Ausbleiben der monatlichen Regelblutung. Man schrieb und sprach von „Kriegsamenorrhoe“, wobei das Wort auf ursächliche, aber bislang medizinhistorisch nur schwierig festzumachende mittelbare oder unmittelbare Zusammenhänge zwischen Krieg und hormoneller Konstitution der Frau hinweist. Dabei konnte die Häufung von Regelblutungsstörungen im Zeitraum 1914 bis 1918 durchaus verschiedene Ursachen haben. Am naheliegendsten indes scheint die Beziehung zwischen Unterernährung und Menstruation, wenngleich weder damals noch heute ein präzise vorhersagbarer Zusammenhang zwischen dem Erreichen eines kritischen Untergewichts und dem Ausbleibenden der Regelblutung besteht.

In der Nachkriegspropaganda wurde die Höhe der deutschen Zivilverluste aufgrund der Hungerblockade der Entente-Mächte stark übertrieben und überschritt die Millionengrenze. Der Hintergrund war klar: Auf diese Weise sollte eine Minderung der agrarischen Reparationsleistungen erreicht werden. Detaillierte Analysen des vom Statistischen Reichsamt ermittelten Zahlenmaterials unter umfassender Berücksichtigung der verfügbaren demografischen Daten der Zivilbevölkerung, der Gesamtmorbidität und -mortalitäten lassen nach Abzug der influenzabedingten („Spanische Grippe“) Übersterblichkeit des letzten Kriegsjahres den Schluss zu, dass die Gesamtzahl der zivilen Hungertoten „nur“ bei etwa 424 000 lag. Katastrophal war die Situation gleichwohl. Der nüchterne Bericht der „Freien wissenschaftliche Kommission zum Studium der jetzigen Ernährungsverhältnisse in Deutschland“ vom 27. Dezember 1918 sprach eine klare Sprache und erkannte unmissverständlich als Hauptfolgen der Hungerblockade die „Vermehrung der Sterblichkeit besonders im Kindesalter und den höheren Altersstufen, verursacht vor allem durch die geringe Widerstandsfähigkeit gegen Infektionskrankheiten“ sowie die durch Darmkrankheiten und „Fettschwund“ hervorgerufene Zunahme tödlicher Krankheiten. Dieser Befund war sicher korrekt und er warf seine langen Schatten in die soziale Zukunft der frühen Weimarer Republik.