Die Staatsform.
Das Deutsche Reich ist ein Bundesstaat, d. h. die einzelnen Staaten haben ihre Selbständigkeit nur insoweit bewahrt, als diese nicht zugunsten der Reichsgewalt eingeschränkt wurde. In der Reichsverfassung haben alle, auch Preußen, einen großen Teil ihrer souveränen Rechte und Aufgaben an den übergeordneten Staat, das „Deutsche Reich“, das eine eigene Gesetzgebung und eigene Behörden besitzt, abgetreten.
Das Deutsche Reich ist aber auch ein konstitutioneller Staat, insofern dem Volk ein Mitwirkungsrecht bei der Gesetzgebung eingeräumt ist.
Die Reichsgesetzgebung.
Die gesetzgebenden Organe des Reiches sind der Bundesrat und der Reichstag. Zu einem Reichsgesetz ist der übereinstimmende Mehrheitsbeschluß dieser beiden Körperschaften erforderlich. Verbindliche Kraft erlangt es dadurch, daß es vom Kaiser unterzeichnet und vom Reichskanzler gegengezeichnet wird. Ist kein besonderer Termin bestimmt, dann tritt es 14 Tage nach seiner Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt in Kraft.
Reichsgesetz bricht Landesgesetz, d. h. mit seiner Veröffentlichung treten alle mit ihm im Widerspruch stehenden Landesgesetze außer Wirkung. Dadurch, daß der Reichsgesetzgebung die wichtigsten Rechtsgebiete zugewiesen sind, ist eine sichere Gewähr für die deutsche Rechtseinheit geschaffen.
Die Aufgaben des Reiches.
Reich und Einzelstaaten üben die Staatsgewalt gemeinsam aus, indem diejenigen Bereiche der Gesetzgebung, die einer einheitlichen reichsweiten Regelung bedürfen, dem Reiche zugewiesen sind; während die Aufgaben, bei denen die spezifischen Verhältnisse der jeweiligen Einzelstaaten zu berücksichtigen sind, im Kompetenzbereich der jeweiligen Staaten verbleiben.
Sache des Reiches ist deshalb:
- Das Militär- und Marinewesen,
- die Regelung der Beziehungen zum Ausland durch Botschaften, Gesandtschaften und Konsulate, Verträge und Bündnisse,
- die einheitliche Regelung von Münzen, Maßen und Gewichten, des Eisenbahn-, Post- und Telegraphenverkehrs und der Seeschiffahrt, der Auswanderung, des Arbeiterversicherungswesens und des Bank-, Handels- und Gewerbebetriebs,
- die Schaffung eines bürgerlichen Rechtes, des Zivil-, Straf-, Handels-, Wechsel- und Scheckrechts, des Patent- und Urheberrechts und die Viehseuchengesetze.
Um das Reich finanziell unabhängig zu stellen, hat es das Besteuerungsrecht; auch ist es befugt, die Gesetzgebung auf Gebiete auszudehnen, die zunächst noch der Landesgesetzgebung überlassen sind. „Reichsrecht bricht Landesrecht“. Doch können Reservatrechte nur mit Zustimmung der beteiligten Staaten beseitigt oder eingeschränkt werden.
Das Reich hat auch das Recht, die Ausführung der Reichsgesetze zu überwachen und nötigenfalls zu erzwingen. In den meisten Fällen überläßt es dieselbe aber den einzelnen Staaten. Zur einheitlichen Handhabung der Gesetze schafft es besondere Reichsbehörden, wie das Reichsgericht, das Reichseisenbahnamt, das Reichsversicherungsamt, das Reichspatentamt u. s. w.
Das Reichsgebiet.
Das Deutsche Reich besteht aus 25 Einzelstaaten und dem Reichsland Elsaß-Lothringen: 4 Königreichen, 6 Großherzogtümern, 5 Herzogtümern, 7 Fürstentümern und 3 freien Reichsstädten.
Ohne die überseeischen Kolonien (Schutzgebiete) umfaßt es rund 540.000 km2 und zählte bei der letzten Volkszählung am 1. Dezember 1910 rund 65 Millionen Einwohner, darunter ungefähr 40 Millionen evangelischer Konfession, 24 Millionen Katholiken und etwa eine ¾ Million Israeliten. Die Bevölkerung ist nach Sprache und Abstammung deutsch, mit Ausnahme von ungefähr drei Millionen polnisch sprechenden Einwohnern, einer Viertelmillion ehemaliger Franzosen und ungefähr einer halben Million Wenden, Tschechen, Litauern, Dänen und Wallonen.