Die Impfpflicht im Kaiserreich wurde 1874 eingeführt, um die Pocken zu bekämpfen. Die Pocken sind eine Viruserkrankung, die bei Ungeimpften in fast jedem dritten Fall tödlich endet.
Die Impfung gegen Pocken war langfristig erfolgreich, denn die Krankheit gilt seit etwa 1970 als ausgerottet.
Bereits 1807, wenige Jahre nach den ersten Impfversuchen, führte Bayern als erstes Land eine Impfpflicht ein. Die Impfpflicht im Kaiserreich wurde also drei Jahre nach der Gründung des Kaiserreichs eingeführt.
Wer sich oder seine Kinder nicht impfen lassen wollte, musste mit Geld- und Haftstrafen oder einer Zwangsimpfung rechnen.
Es ist interessant zu bemerken, dass die Debatte um die Impfpflicht bereits im 19. Jahrhundert heftig war. Es gab Diskussionen über die Einschränkung der individuellen Freiheit und das Wohl der Gesellschaft.
Wirklichkeit aus dem Frühjahr 1874.
Damals diskutierte der Deutsche Reichstag fünf Sitzungen lang einen von der Regierung Bismarck eingebrachten „Gesetzentwurf über den Impfzwang“. Der Reichskanzler wollte die Pockenschutzimpfung, die schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Bayern, Baden oder Württemberg galt, reichsweit verpflichtend einführen.
Allein zwischen Herbst 1870 bis 1872 waren im nun vereinigten kleindeutschen Reich rund 150.000 Menschen der tückischen Infektion erlegen.
Die Prinzipien des Gesetzesentwurfs […] gehen dahin, dass der Staat die Pflicht hat, seine Einwohner zu schützen gegen eine schwere Seuche, welche in früheren Zeiten im höchsten Grade verheerend gewirkt hat und welche aus dem Mangel der Revaccination
[Auffrischungsimpfung] auch in den letzten Jahren nach wieder große Verheerungen angerichtet hat.
Der Staat […] ist also mit diesem Gesetz imstande, viele Leben zuerhalten, die auf diesem Wege erhalten werden können, und was ebenso nötig ist, eine Masse von dauerndem Siechtum, eine Masse von Verlusten der Sinnesorgane zu
verhüten, die dieser Krankheit folgen und die die Arbeitsfähigkeit derjenigen, die derselben unterworfen sind, auf das Schwerste beeinträchtigen.
Es handelt sich um die 10 Erhaltung vieler Menschenleben und um die Erhaltung einer unabsehbaren Reihe von
Arbeitskräften und Arbeitstagen, welche den Einzelnen zum erhöhten Lebensgenuss helfen und der Gesellschaft wie dem Staate zu ihrer weiteren Entwicklung von höchstem Wert sind.
Das ist der Rechtsstandpunkt, meine Herren, und diesem gegenüber sind die Einwendungen, die gegen das Gesetz vom Standpunkt der 15 persönlichen Freiheit gemacht werden, hinfällig, denn der Staat hat die Pflicht, die
Freiheit des Einzelnen soweit einzuschränken, als es das wohl erkannte Interesse der Gesamtheit verlangt, und er vollzieht diese Pflicht gerade auf diesem Gebiet in den verschiedenen Formen bei den verschiedensten Gelegenheiten. Bei der Entwicklung der
öffentlichen Gesundheitspflege werden wir noch öfter diesem Punkte gegenüberstehen.
20 […]
Wir sind dazu genötigt, es [die Impfung] nicht bloß der Sitte und somit der Einsicht des Einzelnen zu überlassen, weil wir gerade in Folge der schweren Epidemien, die während des letzten Krieges über uns hereingebrochen sind, die Erfahrung gemacht
haben, dass […] die Masse der Fälle, die in einer Epidemie sich häufen, […] immer in
25 einer Verschärfung sowohl in der Ausdehnung, die die Ansteckung über den ganzen
Bevölkerungskreis mit sich bringt, als auch in einer Verschärfung der einzelnen Fälle
sich bemerkbar macht. […]
Der Herr Vertreter der Bundesregierungen hat Ihnen selbst gesagt, dass die viel mäßigeren Strafen, wie sie in dem bayerischen Gesetze für die erste Vaccination 30 vorgesehen sind, ganz ausgereicht, ja dass sie sogar schon den Erfolg gehabt haben, dass
der Widerwille gegen die Vaccination, der ursprünglich in weiteren Kreisen verbreitet war, immer geringer geworden ist. Die Strafen, welche lediglich in Geldstrafen bestehen, haben immer seltener in Anwendung gebracht werden müssen […].
Meine Herren, ich bitte Sie nun noch, nicht zu erschrecken vor der Lebhaftigkeit, 35 Heftigkeit und anscheinend großen Zahl derjenigen, die gegen dieses Gesetz protestieren […]: es sind einzelne Stimmen, die mit großem Eifer ihre Thesis
verteidigen, die aber durchaus nicht als Durchschnittsleute zu betrachten sind, welche eine große Masse von Menschen hinter sich hätten.
Quelle 1 | Paul Löwe (Arzt und Abgeordneter der liberalen Fortschrittspartei): Rede
im Reichstag am 18. Februar 1874 | zitiert nach: Protokolle Reichstag, Sten.Ber. 1
(1874), 103ff. (Rechtschreibung angepasst)
Der in Frage stehende Gegenstand scheint mir von nicht geringer Erheblichkeit zu sein; wir haben soeben gehört, – und es liegt in der Natur der Sache – dass es sich um eine Beschränkung der persönlichen Freiheit handelt; […] so haben wir alle Veranlassung,
mit der höchsten Vor- und Umsicht in die Debatte und die Beschlussfassung 5 einzutreten. […] Ganz besonders aber, meine Herren, scheint mir eine Gefahr ins Gewicht zu fallen, welche aus dieser zwangsweisen Impfung entsteht, die Gefahr
nämlich, dass wenn die eine Krankheit vielleicht ferngehalten wird, dafür eine andere, schlimmere Krankheit ihren Einzug in das betreffende Individuum hält […].
Wenn der Abgeordnete Löwe soeben gesagt hat, dass im Königreich Württemberg von Millionen 10 seines Wissens niemals Jemand mit einer anderen Krankheit durch die Impfung angesteckt worden sei, so kann ich ihm aus meiner Erfahrung sagen, dass in Köln eine
Anzahl von Fällen bekannt geworden ist, in welche die unheilvollsten Folgen an eine Impfung sich angereiht haben. […]
Wenn Sie […] die Bestimmungen ins Auge fassen, meine Herren, so werden Sie sehen, 15 dass dieselben zu wahren Ungeheuerlichkeiten führen können.
Ich will von den Geldbußen nicht reden als solchen; aber wenn Leute kein Geld haben, so werden sie wohl eingesperrt werden, also auch hier wieder eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, die eintreten muss, wenn man überhaupt die Bestrafung zu einer allgemein wirksamen machen will. […] ich glaube, meine Herren, das sind doch Mittel, die man
20 nur in alleräußersten Notfällen zur Anwendung bringen sollte. […]
Jedenfalls bin ich der Ansicht, dass hier das in „in dubiis libertas“ [lat., bedeutet: „Im zweifelhaften Freiheit“ – entstammt aus dem Sprichwort „Im Notwendigen herrsche Einmütigkeit, im Zweifelhaften Freiheit, in allem aber Nächstenliebe“] maßgebend zu sein hat. Wir können […] von den Regierungen fordern, dass sie nach allen Richtigen hin die 25 Möglichkeit gewähren, sich vaccinieren zu lasen.
Vielleicht könnte man sogar so weit gehen, gewisse Prämien darauf zu setzen, wenn Eltern ihre Kinder vaccinieren lassen.
Aber etwas ganz Anderes ist es mit den Strafen und namentlich mit solchen Strafen, wie sie hier angedroht sind, um die Leute zu ihrem vorgeblichen Heile zu nötigen.
Quelle 2 | August Reichensperger (1808 – 1895, Kölner Jurist und von 1867 bis 1884 als Mitglied und zentraler Repräsentant der katholischen Partei Zentrum,
Abgeordneter im Reichstag): Rede im Reichstag am 18. Februar 1874 | zitiert nach:
Protokolle Reichstag, Sten.Ber. 1 (1874), 105f. (Rechtschreibung angepasst)
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