Das deutsch-russische Verhältnis ist derzeit alles andere als spannungsfrei. Doch über 1000 Jahre gemeinsame Geschichte zeigen: Man war sich nicht immer Feind, sondern auch guter Freund.
Am Anfang stand ein Fest, genauer: eine Hochzeit. 1073 heiratete Fürst Jaropolk von Kiew Kunigunde von Weimar. Eingefädelt hatte diese Ehe offenbar Jaropolks Mutter, Gertrud von Polen. Sie wollte die Kiewer Rus, das erste Großreich auf ostslawischem Boden, in das Konzert der sich formierenden europäischen Reiche einbinden. „Das ist ein schöner Beginn der deutsch-russischen Beziehungen und ein schöner Beginn für unsere Ausstellung“, sagt Professor Matthias Wemhoff, der die Ausstellung „Russen und Deutsche“ im Neuen Museum in Berlin betreut.
Doch die Flitterwochen in den deutsch-russischen Beziehungen dauerten nicht lange an. Jaropolk wurde wenige Jahre nach der Hochzeit ermordet. Und spätestens mit der Zerstörung Kiews 1240 durch mongolisch-tatarische Krieger verschwand der slawische Osten aus dem Blickfeld des Westens.
Bis das Großfürstentum Moskau an der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert auf den Plan tritt. „Man beobachtete Moskau mit Neugier. Doch die Berichte von Reisenden und Gesandten betonen sehr stark das Andersartige. Das betrifft die Kleidung, das Hofzeremoniell, das wochenlange, ja monatelange Warten darauf, vorgelassen zu werden“, schildert der Historiker Wemhoff. „Und man wundert sich über die streng hierarchische Gesellschaft.“
Ein russisch-deutscher Neuanfang
Es gibt nur wenig Berührungspunkte zwischen Deutschland und Russland – bis zur Ära von Peter I.: „Peter der Große stößt das Fenster zum Westen auf“, so Wemhoff, „Er ist die Figur, die mit vielen Traditionen bricht. Das Bild des Bartabschneidens ist das prägnanteste.“ Der Zar hatte angeordnet, dass Bartträger sich entweder rasieren sollten oder Steuern für das Tragen eines Bartes zu zahlen hatten.
Äußeres Zeichen des Neuanfangs ist St. Petersburg, die neue Hauptstadt, die nicht nur einen deutschen Namen erhält. Der Zar reist durch den Westen, durch Deutschland und die Niederlande, schaut sich vieles an und ab. Heute würde man zeitgeistgemäß von „Wissens- und Technologietransfer“ sprechen.
Wemhoff erläutert, dass die Gründung der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg direkt auf ein Treffen Peters mit dem deutschen Universalgelehrten Leibniz zurück geht. Der junge Zar sorgte teils mit brachialer Gewalt dafür, dass Russland Anschluss an Europa fand. Dabei erkannte er die Vorteile strategischer Verheiratungen. „Schon bald kam großer Teil der Ehepartner aus dem Westen, insbesondere aus Deutschland.“ Diese Linie setzte sich fort bis zur letzten russischen Zarin, Alexandra, einer geborenen Prinzessin von Hessen-Darmstadt. Sie war die Frau des 1917 gestürzten Zaren Nikolaus II.
Charlottengrad und Avantgarde
Nach 1917 flohen viele Russen vor den Revolutionswirren nach Berlin. Die meisten zog es in den Bezirk Charlottenburg – schon bald wurde der Stadtteil vom Volksmund „Charlottengrad“ genannt.
Deutsche Künstler wiederum zeigten sich von den Veränderungen in Russland so fasziniert, dass sie revolutionäres Gedankengut in Architektur und Malerei aufgriffen. Russische und auch deutsche Sozialisten setzten darauf, dass auch Deutschland vor dem Umbruch stünde.
Daraus wurde bekanntermaßen nichts. „Aber in beiden Ländern gibt es eine Parallele: Beide Länder steuern in den wenigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Diktaturen hinein“, erläutert der Berliner Historiker Wemhoff. „Wir erkennen immer stärker die Ursachen in der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs, die alles, was war, kappt und zerbricht.“
Der Bonner Geschichtswissenschaftler Dittmar Dahlmann ergänzt: „Wesentlich ist meiner Ansicht nach ein mangelndes Demokratieverständnis. Zudem waren beide Länder Verlierer des Krieges von 1914 bis 1918.“ Die chaotische Situation nach dem Krieg habe die richtigen Voraussetzungen geschaffen, um totalitäre Diktaturen an die Macht zu bringen.
Deutsche und Russen nach dem 2. Weltkrieg
Im Zweiten Weltkrieg starben allein in der Sowjetunion je nach Statistik 25 bis 27 Millionen Menschen. „Eine unvorstellbare Zahl von Toten und ein unvorstellbares Ausmaß an Zerstörung.“ Matthias Wemhoff ist von dieser Zahl immer wieder erschüttert. Dennoch begegnen Russen den Deutschen in aller Regel ohne Vorbehalte. „Die Russen haften die Vergangenheit nicht den Deutschen generell an, sondern sehen das differenziert“, meint der Historiker, womöglich weil es auch in der Sowjetunion die Erfahrung von eigener, stalinistischer Diktatur gebe. Er schätze das jedenfalls sehr.
Das durch Deutschland verursachte millionenfache Sterben und der Holocaust haben dazu geführt, dass die Menschen in Deutschland ein distanziertes Verhältnis zur Geschichte haben. „In Russland ist das anders. Dort hat man trotz aller negativen Erfahrungen mit dem Stalinismus ein durchaus positives Verhältnis zur Geschichte“, erläutert Dahlmann.
Wenn Geschichtspolitik zum Politikum wird
In den 1990er Jahren gab es einen breiten akademischen und auch gesellschaftlichen Diskurs in Russland, die eigene, schwierige Geschichte aufzuarbeiten. Damals wurde die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen wie „Memorial“, deren Thema die Vergangenheitsbewältigung ist, gefördert, heute dagegen werden NGOs in ihrer Arbeit behindert. Dahlmann kritisiert scharf: „Dass es in Russland zunehmend schwieriger wird für NGOs wie Memorial, das weiß jeder – außer vielleicht unsere Regierung oder die Europäische Union, die das einfach so hinnehmen, ohne dagegen ihre Stimme zu erheben.“
Aktuell sieht Dahlmann in Russland eine Tendenz zur Glorifizierung der eigenen Geschichte: „Geschichte und Geschichtspolitik spielen eine wichtige Rolle dabei, Russland wieder zu einer Großmacht zu machen. Außerdem lenkt die Beschäftigung mit der eigenen Größe von aktuellen Schwierigkeiten ab.