20 E 377/23
Verwaltungsgericht Hamburg Beschluss
In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Hamburg, Kammer 20, am 22. Februar 2023 durch
beschlossen:
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller auf Antrag einen auf ein Jahr befristeten Personalausweis ohne die Abnahme von dessen Fingerabdrücken auszustellen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin. Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
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Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten und sonst von der Entscheidung Betroffenen die Beschwerde an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht zu. Sie ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Be- schlusses beim Verwaltungsgericht Hamburg, Lübeckertordamm 4, 20099 Hamburg, einzulegen.
Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist beim Hamburgischen Oberverwaltungsgericht, Lübeckertordamm 4, 20099 Hamburg, eingeht.
Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Hamburgischen Oberverwaltungsgericht, Lübeckertordamm 4, 20099 Hamburg, einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern ist oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen.
Eine Beschwerde in Streitigkeiten über Kosten, Gebühren und Auslagen ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 EUR übersteigt.
Der Beschwerde sowie allen Schriftsätzen sollen sofern sie nicht in elektronischer Form eingereicht werden Abschriften für die Beteiligten beigefügt werden.
Vor dem Hamburgischen Oberverwaltungsgericht müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Hamburgischen Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechts- anwälte oder Rechtslehrer an einer der in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Hochschulen mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Ferner sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen als Bevollmächtigte zugelassen. Ergänzend wird wegen der weiteren Einzelheiten auf § 67 Abs. 2 Satz 3, Abs. 4 und Abs. 5 VwGO verwiesen.
Hinsichtlich der Festsetzung des Streitwertes steht den Beteiligten die Beschwerde an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht zu. Die Streitwertbeschwerde ist beim Verwaltungsgericht Hamburg, Lübeckertordamm 4, 20099 Hamburg, einzulegen.
Sie ist spätestens innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt hat, schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle einzulegen.
Soweit die Beschwerde gegen die Streitwertfestsetzung nicht durch das Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, ist eine Beschwerde gegen die Streitwertfestsetzung nur gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegen- standes 200,00 EUR übersteigt.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz im Hinblick auf die Ausstellung eines Personalausweises ohne die Abgabe seiner Fingerabdrücke zum Zwecke der Speicherung
auf dem elektronischen Chip des Ausweises.
Der Antragsteller besitzt einen bis zum 7. April 2023 gültigen Personalausweis. Betreffend eine Verlängerung seines Personalausweises wandte er sich mit seinem Anliegen zunächst an die Antraggegnerin. Diese teilte ihm mit Schreiben vom 16. Januar 2023 mit, dass die Ausstellung eines neuen Personalausweises aufgrund von § 5 Abs. 1 Personalausweisgesetz (PAuswG) und § 5 Abs. 5 Nr. 3 PAuswG zwingend die Abgabe von Fingerabdrücken
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erfordere. Hiergegen wandte sich der Antragsteller mit
ten Schreiben vom 21. Januar 2023. Hierüber ist seitens der Antraggegnerin noch nicht entschieden worden.
Der Antragsteller hat am 26. Januar 2023 um einstweiligen Rechtschutz nachgesucht. Er ist der Auffassung, dass die Vorschriften, die die Verpflichtung zur Abgabe von Fingerabdrücken zur Speicherung auf Personalausweisen beinhalten, unwirksam seien und ihn in seinen Grundrechten verletzten.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm auf Antrag einen auf ein Jahr befristeten Personalausweis ohne die Abnahme von dessen Fingerabdrücken auszustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung trägt sie vor, dass § 5 PAuswG zwingend die Erhebung und Speicherung von Finderabdrücken vorsehe und das Gesetz insoweit kein Ermessen einräume. Zudem sei die Vorschrift auch nicht verfassungswidrig, jedenfalls sei dies gerichtlich nicht festgestellt worden. Der Eilantrag sei darüber hinaus nur zulässig, wenn die im Schreiben vom 16. Januar 2023 gemachte Mitteilung, dass ein neuer Personalausweis zwingend mit Fin- gerabdrücken auszustellen sei, ein feststellender Verwaltungsakt und nicht lediglich eine Mitteilung über die Rechtslage sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird ergänzend auf den Inhalt der Ge- richtsakte Bezug genommen.
II.
Der vom Antragsteller gestellte Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist gemäß § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO dahingehend zu verstehen, dass er die Ausstellung eines Personal- ausweises ohne die Abgabe seiner Fingerabdrücke bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes über die in Streit stehen Vorschrift begehrt. Dies folgert das Gericht daraus, dass der Antragsteller zur Begründung seines Antrags insbesondere auf den Vor- lagebeschluss des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 13. Januar 2022 (VG Wiesbaden,
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Beschl. v. 13.01.2022, 6 K 1563/21.WI, juris) zu eben dieser Frage verweist. Im Hinblick auf die regelmäßige Verfahrensdauer eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof dürfte insoweit ein Zeitraum von einem Jahr ausreichend sein, da davon auszugehen ist, dass zu diesem Zeitpunkt eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vorliegen wird. Zudem ist gemäß Art. 4 Abs. 3 VO (EU) 2019/1157 für Perso- nalausweise eine Gültigkeitsdauer von zwölf Monaten oder weniger auch für solche Fälle vorgesehen, in denen vorrübergehend aus physischen Gründen von keinem der Finger Fin- gerabdrücke genommen werden können.
Der vom Gericht gemäß § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO so verstandene Antrag ist zulässig (1.) und begründet (2.).
1. Der Antrag ist zulässig. Insbesondere kann der Antragsteller sich auf ein Rechtsschutz- bedürfnis berufen, da er sich mit seinem Begehren vorher erfolglos an die Antragsgegnerin gewandt hat.
2. Der Antrag ist auch begründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anord- nungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechts- verhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO hat der Antragsteller glaubhaft zu machen, dass ihm der streitige Anspruch in der Hauptsa- che zusteht (sog. Anordnungsanspruch) und dessen vorläufige Sicherung nötig erscheint (sog. Anordnungsgrund). Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch (hierzu unter a.) als auch einen Anordnungsgrund (hierzu unter b.) glaubhaft gemacht. Zudem ist das Gericht für den Erlass einer einstweiligen Anordnung im vorliegenden Fall auch befugt (hierzu unter c.).
a. Ein Anordnungsanspruch liegt nach der im Eilverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage vor.
Der Kläger hat einen Anspruch auf die Ausstellung des begehrten Personalausweises aus § 9 Abs. 1 Satz 1 des Personalausweisgesetzes (PAuswG). Fingerabrücke muss er hierfür nicht abgeben, weil es hierfür keine Grundlage gibt. Gemäß § 5 Abs. 9 PAuswG werden zwar die auf Grund der Verordnung (EU) 2019/1157 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unions- bürgern und der Aufenthaltsdokumente, die Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausgestellt werden, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben (im Folgenden: VO 2019/1157)
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auf dem elektronischen Speichermedium zu speichernden zwei Fingerabdrücke der antragstellenden Person in Form des flachen Abdrucks des linken und rechten Zeigefingers im elektronischen Speicher- und Verarbeitungsmedium des Personalausweises gespeichert. Allerdings gibt es nach den derzeit vorliegenden Informationen keine nach der genannten Verordnung zu speichernden Fingerabdrücke, weil die Verordnung jedenfalls insoweit un- wirksam ist. Es kann dahinstehen, ob sich dies bereits daraus ergibt, dass der hinsichtlich der Fingerabdrücke maßgebliche Art. 3 Abs. 5 VO 2019/1157 gegen Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) verstößt (hierzu unter aa.). Die Verord- nung ist bereits wegen eines Verstoßes im Hinblick auf die Durchführung eines ordnungs- gemäßen Gesetzgebungsverfahren unwirksam (hierzu unter bb.).
aa. Nach Ansicht des Gerichts könnte Art. 3 Abs. 5 VO 2019/1157 möglicherweise gegen Art. 7 und 8 GRCh verstoßen.
dass jede Person das Recht auf Achtung ihres Privatlebens hat.
betreffenden personenbezogenen Daten. Die Erfassung und die Speicherung von Fingerabdrücken durch nationale Behörden stellen einen Eingriff in die Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten dar. Daher ist zu prüfen, ob diese Eingriffe gerechtfertigt sind (vgl. EuGH, Urt. v. 17.10.2013, C-291/12, juris zur Rechtmä- ßigkeit der Speicherung von Fingerabdrücken in Reisepässen).
nen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden. Da gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 PAuswG in Deutschland eine Personalausweispflicht besteht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diejenigen, die einen Personalaus- weis beantragen, in eine solche Datenverarbeitung eingewilligt haben (vgl. EuGH, Urt. v. 17.10.2013, a.a.O., Rn. 31). Nac
übung dieser Rechte dennoch zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen sie erforderlich sein und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienen- den Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. EuGH, Urt. v. 17.10.2013, a.a.O., Rn. 34).
Mit Art. 3 Abs. 5 VO 2019/1157 verfolgt der Gesetzgeber ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel. Gemäß den Erwägungsgründen 17, 18 und 19 der Verordnung dient die Aufnahme der Fingerabdrücke in Personalausweisen insbesondere dem Zweck, das Fälschungs- und
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Betrugsrisiko zu verringern und so die Sicherheit der Personalausweise zu erhöhen. Auf diese Weise soll die Freizügigkeit der Unionsbürger gefördert werden. Die Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen ist auch geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Durch die Speicherung der Fingerabdrücke wird die Fälschungsmöglichkeit aufgrund erhöhter technischer Anforderungen jedenfalls erschwert. Auch das Betrugsrisiko wird minimiert, da die Überprüfung der Fingerabdrücke eine eindeutige Identifizierung der jeweiligen Person ermöglicht. Diese Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise dürfte zwar in erster Linie der Verhinderung der illegalen Einreise dienen und nicht unmittelbar der Freizügigkeit. Jedoch kann in Fällen, in denen Zweifel an der zur Freizügigkeit berechtigenden Identität eines Unionsbürgers bestehen, der betroffenen Person durch die schnelle Identifizierung eine zügige Weiterreise ermöglicht werden, sodass jedenfalls mittelbar auch die Nutzung der Freizügigkeit gefördert wird.
Offen ist jedoch, ob der mit der Speicherung der Fingerabdrücke verbundene Eingriff in das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 GRCh noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem damit verfolgten Zweck steht. Hierbei ist zunächst maßgeblich, dass es sich bei Fingerabdrücken um biometrischen Daten handelt, die als höchst sensibel einzustufen sind (vgl. Ziebarth, in: Sydow/Marsch, DS-GVO/BDSG, DS-GVO, 3. Aufl. 2022, Art. 4 Rn. 185). Im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit ist dem Schutz dieser Daten daher ein besonders hoher Stellenwert einzuräumen. Damit sind an den mit der Verarbeitung dieser Daten verfolgten Zweck auch besonders hohe Anforderungen zu stellen. Der Europäische Gerichtshof hat die Speicherung von Fingerbadrücken in Reisepässen zum Zwecke der Verhinderung der illegalen Einreise als angemessen erachtet (vgl. EuGH, Urt. v. 17.10.2013, C-291/12, juris). Jedoch ist die dort vorgenommene Abwägung nicht gänzlich auf den vorliegenden Fall übertragbar. Denn gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 PAuswG ist jeder Deutsche im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG verpflichtet, einen Personalausweis zu besitzen, womit keine Möglichkeit besteht, sich der Abgabe der Fingerabdrücke zu entziehen. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zum Reisepass, dessen Besitz freiwillig ist. Der Personalausweis wird zudem nicht nur als Reisedokument, sondern auch für eine Vielzahl weite- rer Zwecke im alltäglichen Leben genutzt, womit das Missbrauchsrisiko der auf dem Chip befindlichen Daten steigt. Daher unterliegt die Prüfung der Angemessenheit der Speicherung von Fingerabdrücken in Reisepässen und Personalausweisen nach Ansicht des Ge- richts unterschiedlichen Maßstäben (vgl. VG Wiesbaden, Beschl. v. 13.01.2022, 6 K 1563/21.WI, juris Rn. 52). Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Personalausweise auch über andere Sicherheitsmerkmale verfügen, die offensichtlich geeignet sind, die Echtheit des Dokuments und die Identität des Inhabers festzustellen, wäre genau zu prüfen, ob eine
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Verarbeitung dieser höchst sensiblen Daten nur zum Zwecke der Überprüfung der wenigen verbleibenden Zweifelsfälle gerechtfertigt werden kann.
bb. Vorliegend hätte nach Ansicht des Gerichts für den Erlass der Verordnung 2019/1157 jedenfalls das besondere Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 77 Abs. 3 AEUV durchge- führt werden müssen, sodass sich die Regelung in Art. 3 Abs. 5 VO 2019/1157 schon aus diesem Grund als rechtswidrig erweist.
Die Verordnung 2019/1157 wurde auf Art. 21 Abs. 2 AEUV gestützt und auf Vorschlag der Europäischen Kommission nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente, nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialaus- schusses und nach Anhörung des Ausschusses der Regionen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen. Nach Art. 21 Abs. 2 AEUV können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Vorschriften er- lassen, mit denen die Ausübung des Freizügigkeitsrechts erleichtert wird, wenn zur Errei- chung dieses Ziels ein Tätigwerden der Union erforderlich erscheint und die Verträge hierfür keine Befugnisse vorsehen.
Mit Art. 77 Abs. 3 Satz 1 AEUV existiert jedoch eine weitere Kompetenznorm, die hier vorrangig anzuwenden ist. Demgemäß kann der Rat in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente erlassen, falls zur Erleichterung der Freizügigkeit ein Tätigwerden der Union erforderlich ist und sofern die Verträge hierfür anderweitig keine Befugnisse vorsehen. Damit sind in erster Linie Vorschriften über die Gestaltung dieser Dokumente gemeint, so auch die Aufnahme biometrischer Daten (vgl. Schoo, in: Schwarze/Be- cker/Hatje, EU-Kommentar, AEUV, Art. 77 Rn. 19). Da Art. 3 Abs. 5 VO 2019/1157 mit der Verpflichtung zur Speicherung von Fingerabdrücken Vorgaben im Hinblick auf die Gestal- tung von Personalausweisen trifft, die gemäß der Erwägungsgründe 1, 2, 17 und 28 der Verordnung ausdrücklich dem Zweck dienen, die Freizügigkeit der Unionsbürger zu fördern, stellt Art. 77 Abs. 3 Satz 1 AUEV die einschlägige Rechtsgrundlage dar. Die Kompetenz
beitsweise der Europäischen Union vorgesehenen Befugnissen, hierunter fällt allerdings ie dem Inhalt nach speziellere Vorschrift mit den höheren Anforderungen an das Gesetzgebungs- verfahren vor (vgl. Schoo, in: Schwarze/Becker/Hatje, EU-Kommentar, AEUV, Art. 77 Rn. 20; vgl. Weiß, in: Streinz, AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 77 Rn. 40). Gemäß Art. 77 Abs. 3
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des Europäischen Parlaments bedurft (vgl. VG Wiesbaden, Beschl. v. 13.01.2022, 6 K 1563/21.WI, juris).
b. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Er ist vorliegend auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes angewiesen, da die Gültigkeit seines aktuellen Personalausweises am 7. April 2023 endet. Aufgrund der gemäß § 1 Abs. 1 PAuswG bestehenden Pflicht zum Besitz eines Personalausweises, müsste der Antragsteller spä- testens zum 7. April 2023 einen neuen Personalausweis beantragen, um nicht gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 1 PAuswG ordnungswidrig zu handeln. Ohne die einstweilige Anordnung wäre er dabei gezwungen, seine Fingerabdrücke abzugeben. Zwar hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden die Frage über die Gültigkeit der in Streit stehenden Vorschriften gemäß Vorlagebeschluss vom 13. Januar 2023 dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass zu diesem Zeitpunkt schon eine Entscheidung über die Gültigkeit der gerügten Gemeinschaftsnorm vorliegen wird.
c. Das Gericht ist im vorliegenden Fall auch befugt, eine einstweilige Anordnung zu erlas- sen. Dies gilt trotz des im Hinblick auf die Verwerfung von Unionsrecht bestehenden Monopols des Europäischen Gerichtshofs.
Beruht die Verwaltungsmaßnahme einer nationalen Behörde auf sekundärem Unionsrecht, dessen Gültigkeit zweifelhaft ist, kann das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 47 GRCh mit dem Verwerfungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV in Konflikt geraten, das grundsätzlich auch im Eilverfahren vor nationalen Gerichten zu beachten ist (vgl. EuGH, Urt. v. 22.10.1987, 314/85, juris). Führte die Norm- verwerfungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes durch nationale Gerichte, wäre die Effektivität des Rechtsschutzes gefährdet. Aus diesem Grund ist anerkannt, dass ein nationales Gericht, wenn es Zweifel an der Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift mit dem Unionsrecht hat, entsprechend den im nationalen Recht vorgesehenen Kriterien die Anwendung dieser Vorschrift im Wege des Erlasses vorläufiger Maßnahmen bis zur Entscheidung über die Vereinbarkeit aussetzen kann, sofern diese Kriterien den Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz entspre- chen (vgl. EuGH, Urt. v. 13.03.2007, C-432/05, juris; vgl. EuGH, Urt. v. 9.11.1995, C- 465/93, juris). Der Europäische Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass ein nationales Gericht einstweilige Anordnungen in Bezug auf einen zur Durchführung einer Gemeinschaftsverordnung erlassenen nationalen Verwaltungsakt erlassen darf,
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- – wenn es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit einer Unionshandlung hat und diese Gültigkeitsfrage, sofern der Gerichtshof mit ihr noch nicht befasst ist, diesem selbst vorlegt;
- – wenn die Entscheidung dringlich in dem Sinne ist, dass die einstweiligen Anordnungen erforderlich sind, um zu vermeiden, dass die sie beantragende Partei einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet;
- – wenn es das Interesse der Union angemessen berücksichtigt und
- – wenn es bei der Prüfung aller dieser Voraussetzungen die Entscheidungen des Ge- richtshofes oder des Gerichts über die Rechtmäßigkeit der Verordnung oder einen Be- schluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes betreffend gleichartige einstwei- lige Anordnungen auf Unionsebene beachtet
(vgl. EuGH, Urt. v. 9.11.1995, C-465/93, juris Rn. 51).
Aus den obigen Erwägungen ergeben sich erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Art. 3 Abs. 5 VO 2019/1157. Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof kann indes unterbleiben, da dieser aufgrund eines Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichts Wies- baden vom 13. Januar 2022 mit derselben Frage bereits befasst ist.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zudem in dem Sinne dringlich, als dass sie erforderlich ist, um zu vermeiden, dass der Antragsteller einen schweren nicht wiedergut- zumachenden Schaden erleidet. Dringlichkeit ist dabei nur anzunehmen, wenn der vom Antragsteller geltend gemachte Schaden eintreten kann, bevor der Gerichtshof über die Gültigkeit der gerügten Gemeinschaftshandlung entscheiden kann (vgl. EuGH, Urt. v. 9.11.1995, a.a.O.). Wie im Rahmen der Prüfung des Anordnungsgrundes bereits festge- stellt, wäre der Antragsteller ohne Erlass einer einstweiligen Anordnung gezwungen, seine Fingerabdrücke bei der Beantragung eines neuen Personalausweises abzugeben. Dies würde für den Antragsteller einen erheblichen Nachteil bedeuten, da es sich hierbei um besonders geschützte Daten handelt. Dieser Nachteil wäre auch durch eine spätere Lö- schung nicht wiedergutzumachen, da der Rechtsverlust bereits mit Abgabe der Daten ein- tritt und auch im Zeitraum bis zu einer etwaigen Löschung die Möglichkeit einer Überprü- fung sowie eines Datenmissbrauchs besteht.
Auch das Interesse der Europäischen Union ist angemessen berücksichtigt worden. Dabei ist zu prüfen, ob der fraglichen Gemeinschaftsverordnung nicht jede praktische Wirksamkeit genommen wird, wenn sie nicht sofort angewandt wird (vgl. EuGH, Urt. v. 9.11.1995,
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a.a.O.). Der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung vereitelt den mit dem Erlass der Regelung verfolgten Zweck vorliegend nicht. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Verpflichtung zur Abgabe von Fingerabdrücken erst dann zur praktischen Anwendung kommt, wenn neue Personalausweise beantragt werden. Die Verordnung gilt allerdings erst seit dem 2. August 2021, womit es im Hinblick auf die für Personalausweise in der Regel geltende Gültigkeitsdauer von 10 Jahren ohnehin noch viele Jahre dauern wird, bis eine flächendeckende Umsetzung der Verpflichtung überhaupt erreicht werden kann. Damit ist das Interesse der Union bei einer Aussetzung der Verpflichtung für einen im Hinblick auf die Gültigkeitsdauer von Personalausweisen erheblich kürzeren Zeitraum nur in geringem Maße beeinträchtigt. Zudem sieht Art. 4 Abs. 3 VO 2019/1157 die Ausstellung eines Personalausweises mit einer verkürzten Geltungsdauer von zwölf Monaten oder weniger selbst vor, wenn vorrübergehend aus physischen Gründen von keinem der Finger Fingerabdrücke genommen werden können.
III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG und ergeht in Anlehnung an Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.